Für den Ausstellung-Katalog zur Installation “Marionetten” von Katharina Reich hat Jochen Ressel ein Essay mit folgendem Titel publiziert:

TAKTILITÄT

BITTE NICHT ANGREIFEN

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TAKTILITÄT

…bitte nicht angreifen

Begreifen hat ursächlich mit unseren Sinnen zu tun. Das Fühlen und Spüren wird ergänzt durch das, was wir sehen, hören, riechen und schmecken. Mit einem geschulten Sensorium für dieses Zusammenspiel lernen wir, uns selbst und die Welt um uns „zu begreifen“. Wir verstehen, wie und wer wir wirklich sind, und was die Welt um uns ausmacht. Bei der Beschreibung dieser intrinsischen Prozesse finden sich interessanterweise immer wieder taktile Begrifflichkeiten – wir sprechen vom „Begreifen was vor sich geht“ und von „Ereignissen, die uns berühren“, ohne dabei von Körperlichkeit zu sprechen. Es geht nämlich um unsere Seele, um unser Innerstes – um das, was uns in Wahrheit ausmacht. Doch wie lernen wir, zu begreifen, in einer immer digitalisierteren Welt?

Lernen braucht taktiles, haptisches Erleben. Ein Kind, das z.B. etwas künstlerisch aus Ton zu formen lernen will, macht dann Fortschritte, wenn das, was die Lehrperson in Worten beschreibt und vorzeigt, mit dem deckungsgleich ist, was es bei der Nachahmung selbst spürt. Mitunter braucht es taktile Unterstützung – man hilft haptisch mit, dass die Bewegungen der Hände optimal durchgeführt werden, um dieses Erspüren zu ermöglichen. So „begreift“ das Kind, wie sich das Formen von Ton anfühlen soll und lernt, den Körper entsprechend zu bewegen. Kunst und Kultur sind seit jeher Instrumente, um die Sinne zu schärfen. Wir wollen Kunstwerke haptisch berühren – nicht umsonst finden sich in ausnahmslos jedem Museum Schilder mit der Aufschrift „Nicht berühren!“ Wir verspüren nämlich diesen inneren Drang, hinter die Fassade zu blicken – herausfinden, wie sich die Struktur der Farbe anfühlt, wie das Kunstwerk gemacht oder wie es entstanden ist. In der Marionettenserie von Katharina Reich kommt genau das intensiv zum Ausdruck. Man möchte an der Schnur ziehen, um die Gliedmaßen zu bewegen, mit der Kraft, die durch das Band übertragen wird. Die Marionette appelliert an unser taktiles Bedürfnis und vor allem an den Spieltrieb, an das Kind im Erwachsenen und dessen Lust, etwas zu berühren.

Katharina Reichs Arbeiten fordern uns daher auf, dem Begreifen nachzuspüren. Wenn wir einander begreifen und verstehen, dass wir alle von denselben Sehnsüchten bewegt werden, sind wir dem Frieden ein gutes Stück nähergekommen. Interessanterweise ist der Zusammenhang von „Begreifen“ und „Friede“ auch in einer Messe erlebbar. Nach dem Friedensgruß „Der Friede des Herrn sei allezeit mit Euch!“ und nachdem die Gemeinde antwortet „und mit Deinem Geiste!“ wird eingeladen: „Gebt einander ein Zeichen des Friedens.“ Man wendet sich gegenseitig zu und reicht einander die Hand. Das haptische Berühren wird mit den Worten „Friede sei mit Dir!“ begleitet. Welch tiefes Symbol, dass Frieden mit dem „einander begreifen“ ursächlich zu tun hat.

Jede Künstlerin und jeder Künstler wünscht sich, dass wir alle von Kunst berührt werden – und wir wollen sie berühren. In diesem Wechselspiel kommt es zu einer weiteren Berührung in übertragenem Sinn, nämlich mit der Hand, die die Kunst erschaffen hat. Denn ohne diese Hand, gibt es keine Kunst. In diesem Sinne: Lassen sie sich von Katharina Reichs Arbeiten berühren.